Wo die Länge eine Rolle spielt
Patrick Herr, Pilot
Zum Glück bin ich Pilot und nicht Politiker. Ich muss auf keine Befindlichkeiten Rücksicht nehmen. Mich interessiert eigentlich nur, ob die Lande- oder Startbahn vor mir lang genug ist. Da ich etwa die Hälfte meiner Starts und Landungen in Zürich mache, interessierten mich die Längen der Start- und Landebahnen hier naturgemäss ganz besonders. Seit Jahren schwelt die Diskussion um eine mögliche Verlängerung der Pisten 28 und 32 am Flughafen Zürich. Eine Diskussion, geprägt von verhärteten Fronten und widersprüchlichen Informationen. Man muss die Flughafenbauer des Flughafens Zürich für ihre Kreativität loben. Mir fällt spontan kein anderer Flughafen mit einem ähnlich komplizierten Layout ein. Ursprünglich mal für vier Pisten geplant, wurde bald auf drei reduziert. Im Juni 1946 wurde die erste Piste 10/28 in Betrieb genommen, wenig später die Piste 16/34. Beide Pisten waren damals noch deutlich kürzer als heute.
Bereits 1957 wurde erstmals eine Vergrösserung des schon dazumal aus allen Nähten platzenden Flughafens zur Abstimmung vorgelegt. Das Zeitalter der Jets hatte begonnen, neue Terminals und längere Pisten wurden benötigt. Bereits damals sollte die Piste 28 von 1900 Meter auf 3150 Meter verlängert werden. Unter den Gegnern war damals gar vom «Zürcher Super-Flughafen» die Rede. Das Stimmvolk hatte etwas dagegen, der Ausbau wurde mit einem knappen Nein-Anteil von 54 Prozent abgelehnt. Die revidierte Fassung der Umbaupläne fand ein Jahr später die nötige Zustimmung der Bevölkerung. Danach wuchs die Piste 28 um 600 Meter in Richtung Westen, die Piste 16 wurde um ganze 1100 Meter auf 3700 Meter verlängert.
Sein heutiges Layout mit drei Pisten erhielt der Flughafen Zürich erst 1976, als die Piste 14/32 für den Verkehr freigegeben wurde. Die anfängliche Euphorie über den Fortschritt der Luftfahrt war deutlich abgeebbt, mit der Zunahme des Flugverkehrs und immer zahlreicheren Jets gewann das Thema Fluglärm mehr und mehr an Bedeutung. So wurde bereits 1970 das Fluglärmgesetz verabschiedet, das in seinen Grundzügen noch heute besteht. Ein zentrales Kernelement davon ist das Nachtflugverbot: Zwischen 23 und 6 Uhr dürfen mit wenigen Ausnahmen keine Flugbewegungen stattfinden. Für den bedeutendsten Hub eines Landes ist das weltweit betrachtet schon fast ein Kuriosum. Allenfalls Frankfurt wird noch ähnlich stark reglementiert, ansonsten wird an internationalen Flughäfen mit derart elementarer nationaler Bedeutung in der Regel rund um die Uhr geflogen.
Viel Lärm, viele Anspruchgruppen
Betrachtet man die Landkarte um den Flughafen Zürich, wird schnell deutlich, wie viele Anspruchgruppen mitreden möchten, wenn es um das Thema Fluglärm geht. Im Norden ist Süddeutschland betroffen, im Süden die Stadt Zürich. Seit Jahrzehnten streiten Deutschland und die Schweiz über eine ausgewogene Verteilung des Fluglärms, was zu sagenhaft ineffizienten und hochkomplexen An- und Abflugverfahren führte.
An den meisten Flughäfen, so meine bescheidene Erfahrung als Pilot, richtet sich der An- und Abflugverkehr nach der vorherrschenden Windrichtung. Soweit logisch, denn aerodynamisch betrachtet ist das ideal. Ein Flugzeug fliegt sich einfach am besten, wenn der Wind von vorne kommt. Etwas anders sieht die Sache in Zürich aus. Wenn der Wind hier mal von vorne kommt, liegt das wahrscheinlich daran, dass mal wieder ein Weststurm derartig heftig bläst, dass keine Alternative bleibt. Ansonsten bin ich gewohnt, eher selten Gegenwind im Anflug zu haben. Im Cockpit machen wir dann meistens Witze und fragen uns, ob da jetzt ein Mess- oder ein Schreibfehler vorliegt. Ob das in puncto Sicherheit ein Gewinn ist, lasse ich mal dahingestellt. Jedenfalls diktieren hier am internationalen Flughafen Zürich meistens nicht das Wetter und ganz grundlegende, weltweit anerkannte und erprobte, physikalische und sicherheitsrelevante Zusammenhänge die Ausrichtung des Flugbetriebs, sondern vielmehr die Politik. Mit dem Nordanflugkonzept, bei dem ankommende Flüge über Süddeutschland unter Vermeidung der Innenstadt Zürichs zur Landung geleitet werden, wird den Befindlichkeiten der Anwohner des Mittellandes, des Zürcher Oberlands und der Stadt Zürich Sorge getragen. Wenn dann ab 21 Uhr auf den Westanflug umgestellt wird, bekommen die grenznahen deutschen Gemeinden noch etwas Abendruhe. Und in der frühmorgendlichen Ankunftswelle ab 6 Uhr bekommen dann auch noch die südlich des Flughafens gelegenen Gemeinden ihren Teil vom Kuchen des Fluglärms ab. Als Pilot masse ich mir nicht an, beurteilen zu wollen, ob diese Verteilung fair ist oder nicht. Ich kann aus Erfahrung nur sagen, dass sie weder der Sicherheit noch der Effizienz dienlich ist.
Das Nordkonzept als Hauptanflugkonzept ist das Nadelöhr, das die Kapazität des Flughafens definiert. Solange dieses Konzept Bestand hat, kann im Prinzip keine Erhöhung der Flugbewegungen stattfinden. Ganz abgesehen davon wird die Zahl der An- und Abflüge durch das Fluglärmgesetz sowieso limitiert.
Alte Idee, neues Konzept
Das neue Konzept, das zur Diskussion steht, sieht wieder eine Verlängerung der Pisten 28 und 32 vor. Die Piste 28 soll von 2500 Meter auf 2900 Meter Richtung Westen verlängert werden, die Piste 32 um 280 Meter Richtung Norden. Die Kosten für den Ausbau werden auf etwa 250 Millionen Schweizer Franken geschätzt, zu tragen von der Flughafen Zürich AG. Die Abstimmung darüber dürfte voraussichtlich 2024 stattfinden, Baubeginn wäre dann wohl im Jahr 2030.
Gerade die Verlängerung der Piste 28 hätte signifikante Auswirkungen auf den Flugverkehr. Bei Rückenwind (Bise) oder schlechtem Pistenzustand beispielsweise durch Schnee ist die Piste 28 mit ihrer gegenwärtigen Länge oftmals etwas zu kurz. Dann muss unter Umständen auf die Landebahn 14 oder 34 umgestellt werden, obwohl die Lärmschutzbedingungen eigentlich anderes vorsehen. Mit einer längeren Landebahn 28 könnten viele dieser Umstellungen vermieden werden.
Eine Verlängerung der Pisten 28 und 32, so die Befürworter des Umbaus, könnte die Komplexität des Systems verringern und somit zur Sicherheit beitragen. Die Gegner, allen voran die Initiative «Fair in Air» um Nationalrätin Priska Seiler Graf, hingegen befürchten eine Kapazitätserhöhung durch die Hintertür – also eine höhere Anzahl an Flugbewegungen. Die Initiative gibt an, dass die Verlängerung der Pisten einzig und allein diesem Ziel diene und dass die Überlegungen bezüglich Sicherheit lediglich vorgeschoben würden. Statt einer Verlängerung der Pisten fordert die Gruppierung eine Überarbeitung des gegenwärtigen Verkehrskonzepts, um allfällige Kreuzungspunkte zu entschärfen. Wie das im hochkomplexen Umfeld zwischen hohen Bergen im Süden, deutschem Luftraum im Norden und den vorherrschenden Wetterbedingungen konkret aussehen könnte, lässt die Initiative aber offen.
Manche profitieren, manche verlieren
Unter den Anwohnern würden insbesondere jene profitieren, die südlich des Flughafens Richtung Zürcher Oberland wohnen. Durch die Verlängerung könnten auch bei widrigen Bedingungen Langstreckenflugzeuge auf der Piste 28 landen, die heute noch auf die Piste 34 ausweichen müssten. Anflüge auf die Piste 34 wären dann nur noch (wie bereits heute vorgesehen) in der morgendlichen Ankunftswelle erforderlich. In der Konsequenz wäre natürlich mit etwas mehr Lärmbelastung im Osten des Flughafens zu rechnen. Der Saldo, so die Flughafen Zürich AG, sei aber positiv: Insgesamt wären weniger Menschen von Fluglärm betroffen, da die Zunahme in eher dünn besiedelten Gebieten stattfinden soll, während dichter besiedelte Gegenden von einer Abnahme des Fluglärms profitieren können.
Gerade westlich des Flughafens in den Gemeinden Rümlang, Regensdorf oder der Stadt Baden bestehen Befürchtungen einer Zunahme des Abflugverkehrs, insbesondere schwerer Langstreckenflugzeuge. Die Gegner des Ausbaus führen an, dass durch eine Verlängerung der Piste 28 dort vermehrt schwere Flugzeuge starten könnten. Ein schweres Langstreckenflugzeug steigt naturgemäss schlechter als ein Kurzstreckenflugzeug und erzeugt damit mehr Lärm beim Abflug. Mit dem derzeitigen Konzept starten nur wenige Langstreckenflugzeuge von der Piste 28 – meistens ist das nur bei starkem Westwind und bei kurzen Flügen, ergo leichten Flugzeugen, möglich. Limitierend wirkt dabei aber nicht nur die Länge der verfügbaren Startbahn, sondern insbesondere auch die komplexe Topografie der Schweiz. In der Verlängerung der Piste 28 steigt das Gelände in Richtung des Höhenrückens der Lägern rasch an. Damit steht vermehrten Langstreckenstarts Richtung Westen sowieso ein 866 Meter hoher Berg im Weg. Selbst mit einer Verlängerung der Piste 28 lässt sich dieses Problem nicht lösen. Das Problem liegt hier nicht nur in der Länge der Startbahn, sondern auch in der Geländestruktur dahinter. Strenge Auflagen seitens der Luftfahrtorganisationen schreiben detailliert vor, welchen Steigwinkel Flugzeuge nach dem Start erreichen müssen und mit welcher Sicherheitsmarge Hindernisse mindestens überflogen werden müssen. Dass nach einer Verlängerung ein paar Flugzeuge mehr Richtung Westen starten, ist denkbar. Die Befürchtung einer drastischen Zunahme dürfte aber unbegründet sein.
Am Boden
Für uns Piloten ist der Flug nach der Landung indes noch nicht zu Ende. Schliesslich müssen wir von der Landebahn ja erst noch zum Gate kommen. Im aktuellen Layout ist das mitunter recht kompliziert. Ja, wir kennen den Flughafen Zürich ziemlich gut. Wir wissen in der Regel recht gut, wo welcher Rollweg verläuft. Trotzdem ist der Flughafen Zürich in puncto Komplexität am Boden schon fast einzigartig. Weil auf engstem Raum mehrere Pisten angebracht sind, müssen häufig aktive Start- und Landebahnen gekreuzt werden. Landet beispielsweise ein Kurzstreckenflugzeug auf der Piste 14, muss es nach der Landung die Piste 28 kreuzen, um zum Terminal A zu kommen. In dieser Zeit kann dann logischerweise auf der Piste 28 kein Start erfolgen. Es kommt zu Verzögerungen.
Noch komplizierter wird es im Ostkonzept. Landet ein Flugzeug auf der Piste 28, kreuzt es noch beim Ausrollen häufig die Piste 34. Beim Zurückrollen Richtung Terminal muss die Piste 34 dann nochmals überquert werden. Gerade für die spätabendlichen Abflüge auf der Piste 34 bedeutet das oft nochmals eine Verzögerung. Gleichzeitig verlangt das enge Korsett des Fluglärmgesetzes aber, dass die Flugzeuge der Abendwelle pünktlich in die Luft kommen.
Im Südkonzept, also bei Anflügen auf die Piste 34, sieht es ähnlich kompliziert aus. Während ein Flugzeug auf die Piste 34 anfliegt, kann auf der Piste 32 kein Start erfolgen, weil sich der Abflugweg und der Flugweg eines möglicherweise durchstarteten Flugzeugs kreuzen könnten. Gleichzeitig ist auch auf der Piste 28 kein Flugbetrieb möglich. Landet ein Flugzeug auf der Piste 34 muss es zudem häufig nochmals die Piste 28 überqueren, wenn sich der Standplatz im Süden des Flughafens befindet. Damit wirkt sich praktisch jede Flugbewegung am Flughafen auf die Bewegungen anderer Flugzeuge aus. Und grundsätzlich ist jede Kreuzung einer aktiven Piste einerseits ein Sicherheitsrisiko und andererseits ineffizient.
Kürzere Wege, weniger Verspätungen
Mit einer Verlängerung der Pisten könnten einige dieser Kreuzungspunkte eliminiert werden. Gerade die Verlängerung der Piste 32 würde dafür sorgen, dass praktisch alle Langstreckenflugzeuge dort starten könnten. Vom Dock E aus erreichen die Maschinen die Startbahn in wenigen Minuten, anstatt über die Piste 28 zur Startbahn 34 zu rollen. Neben weniger Komplexität führt das auch zu einer Zeitersparnis von bis zu zehn Minuten und den dazugehörigen Einsparungen beim Treibstoffverbrauch. Die späten Abflüge hätten damit deutlich bessere Chancen, noch vor Beginn des Nachtflugverbots um 23 Uhr in die Luft zu kommen.
Ich habe es schon erwähnt, ich bin kein Politiker. Ich kann auch nicht abschliessend beurteilen, wie fair der Fluglärm derzeit verteilt ist und in Zukunft verteilt wird. Aber mir leuchtet ein, dass die Schweiz als Wirtschaftsstandort auf einen funktionierenden Flughafen angewiesen ist. Oder, wie es das «Komitee für ein weltoffenes Zürich» formuliert: «Ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort ist gut erreichbar oder er existiert nicht.»
Dass Anwohner ihre Bedenken vorbringen, leuchtet mir auch ein. Ich wäre auch nicht begeistert, wenn plötzlich mehr Flugzeuge über meinen Garten donnerten. Allerdings gibt es den Zürcher Flughafen nicht erst seit gestern, und in Flughafennähe muss nun Mal mit Fluglärm gerechnet werden. Was ich mir aber durchaus anmasse, beurteilen zu können, ist die Sicht aus dem Cockpit auf die Thematik. Und da steht eine reduzierte Komplexität am Flughafen Zürich ganz oben auf meinem Wunschzettel. Meine Kolleginnen, Kollegen und ich erleben tagtäglich, welche Auswirkungen das enge Korsett des Flughafens und seiner Umgebung auf unsere Arbeit hat. Immer, wenn wir an einer Pistenkreuzung warten müssen, verbrennen wir weiterhin Sprit. Jeden Tag entstehen zahlreiche Verzögerungen, weil die Abflüge auf der Piste 16 mit Anflügen auf der Piste 14 abgestimmt werden müssen. Jede Verzögerung steht dabei nicht nur für Zeitverlust, sondern auch für ökologisch und ökonomisch gesehen unsinnigen Treibstoffverbrauch, den auch wir Piloten gerne vermeiden würden.
2011 hätte diese Komplexität fast zu einer Katastrophe geführt, als zwei Flugzeuge auf den Pisten 16 und 28 gleichzeitig die Startfreigabe erhielten. Auch für uns ist es ärgerlich, wenn unsere Passagiere ihre Anschlussflüge nicht erwischen können, weil das komplizierte Layout des Flughafens Verspätungen generiert. Und besonders ärgerlich wird es, wenn wir abends erst gar nicht mehr starten dürfen, weil die lange Rollzeit zur Piste 34 mit dem Nachtflugverbot nicht immer vereinbar ist. Sicherlich wird eine Verlängerung der Bahnen nicht alle Probleme des Flughafens auf einmal lösen. Aber es würde wenigstens ein paar Probleme entschärfen. Und wenn es um die Sicherheit geht, ist mir persönlich praktisch jedes Mittel recht.
Der Artikel «Wo Länge eine Rolle spielt» ist zuerst erschienen in der AEROPERS-«Rundschau», der offiziellen Publikation der Pilotenverbände AEROPERS und SwissALPA, Ausgabe 01/2023.
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